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Friedhofkapelle Fürstenwald Chur,
„Omnia cui cedunt, divino cedat amoris” 1996 – Leta Peer

Katalogtext, „Kunst im öffentlichen Raum Graubünden”,
Quart Verlag Luzern 2003
ISBN 3-907631-43-9
Autorin: Isabelle Köpfli, Zürich im Mai 2003

Von aussen ist die milchweisse Glasfensterfront der Kapelle durchscheinend, aber nicht durchsichtig. Ähnlich einem Vexierbild und je nach Lichteinfall und Blickrichtung bzw. Bewegung der Betrachtenden treten aus dieser zuerst nur wenige Bildumrisse hervor, dann auch Ansätze von Körper- und Gesichtszügen. Erkennbar ist aber nichts Ein-deutiges. Am Gedenkort an den Übergang von Leben und Tod, diesem Mysterium, bleibt geradezu symbolisch etwas unfassbar, uneinsehbar.

Was sich nach dem Betreten des Gotteshauses dann aber dem Auge zeigt, sind mehrere Fragmente aus der religiösen Bildsprache sowohl der westlichen als auch der östlichen Welt. Die ursprünglichen, kulturgebundenen Techniken der Darstellungen – Malerei, Mosaik, Relief – sind durch das vergrösserungsbedingt grobe Korn überwunden, was sie untereinander zu verbinden vermag. So drängt das ganze Arrangement auf eine Einheit zu, ohne etwa der Gleichmacherei zu erliegen.

Die warmen Pastelltöne der Bilder, von Gelb über Orange zu einem zarten Lila und grünlichen Anthrazit, entfalten ihre Leuchtkraft erst richtig durch den Einfall des Sonnenlichts, verblassen bei vorüberziehenden Wolken. Dann wirken die Bilder etwas brüchig und körperlos. Das Licht- und Farbenspiel bringt Bewegung, ja Lebendigkeit in die Komposition. Unterstützt wird diese durch eine zweifache Tiefenwirkung. Da die einzelnen Bilder auf drei Seiten der Mehrfachverglasung angebracht sind, werfen sie Schatten sowohl auf die hinteren Bildebenen als auch auf das transluzide Thermolux-Gewebe, das die äussersten Scheiben trennt. Ein besonderer Effekt entsteht nachts, wenn im Innern Licht brennt; dann werden die Bilder farblich reduziert auch von aussen sichtbar.

Die neuen Gebäude des Friedhofs Fürstenwald, an erhöhter Lage über Chur und nahe beim Waldrand, wurden 1996 vom Architekturbüro Urs Zinsli als schlichte Sichtbetonquader erstellt.

Das riesige Kapellenfenster gestaltete die Bündner Künstlerin Leta Peer (*1964), die in Basel, New York und Florenz lebt und arbeitet. Um die gut sechs Meter hohe und elf Meter breite Fensterfläche zu bespielen, ging die Künstlerin bewusst von Miniaturen, Details oder Beiwerk aus, die sie Büchern oder Ansichtskarten entnahm. Mittels einer speziellen Kopiertechnik vergrösserte sie die Vorlagen bis auf das Vierzigfache, um sie dann im Siebdruckverfahren auf die Glasscheiben zu applizieren.

Die architektonisch durch die metallene Trägerkonstruktion vorgegebene Fenstergliederung ignorierend, bilden die zwölf Bildausschnitte einen eigenen Rhythmus. Zu einer imaginären vertikalen Mittelachse sind spiegelbildlich je fünf Motive angeordnet, wobei sich jenes ganz seitlich, die Madonna mit Kind, selber überlagert. Das Prinzip der Verdoppelung tritt hier erneut auf, nicht durch Schattenwurf oder Spiegelung, sondern als senkrechte Verschiebung. Bei diesem grossflächigsten Motiv handelt es sich um Filippino Lippis Madonna des Meeres, einem im Original nur gerade 40 x 28 cm kleinen Renaissance-Tafelbild aus der Sammlung Lorenzo de Medici, das ursprünglich Boticelli zugeschrieben wurde.

Oberhalb und seitlich der Madonna finden sich Szenen aus dem Leben Buddhas, die indischen Terracotta-Reliefen aus der Schule von Mathura entnommen sind: Junge Frau und Komödiant und aus dem 9. Jahrhundert als hinduistisches Motiv der Reichtumsgott Kubera.

Ein drittes, der Nachdenkliche Jüngling (2. / 3. Jh.), ergänzt diese Serie zur oberen Fenstermitte hin. Sich selbst spiegelbildlich überlappend, bildet er den Bildeinstieg in das Kunstwerk, da die Komposition hier durch die nur minimale Überschneidung am leichtesten lesbar und von freier Fensterfläche umgeben ist. Zur Seite hin wird sie immer dichter und komplexer, sodass die einzelnen Elemente visuell nur noch schwer isolierbar sind. Das fünfte, einzig nicht figurative, da islamische Motiv stammt aus einem Fayence-Mosaik der andalusischen Alhambra und flankiert die Bildmitte. Dass die Systematik der Bildanordnung aber nicht statisch oder banal wirkt, gelingt Leta Peer durch eine subtile Asymmetrie in der Farbgebung.

Das Fenster strahlt eine Atmosphäre der Ruhe aus, die zu Einkehr und Besinnung einlädt. Das mag nebst der harmonischen Farbgebung auch am Spiel mit den Dimensionen liegen. Die schiere Grösse des Fensters wird relativiert durch die immense Vergrösserung der Figuren und Ornamente, welche in ihrer klaren Anordnung Stabilität ausstrahlen.

Diese Bilder, die wir alle so oder variiert kennen, die Jahrhunderte überdauerten als wären sie schon immer da gewesen, lassen eine Art Aufhebung der Zeit anklingen, Ewigkeit. Wer sich in der Kapelle einfindet, ist also konfrontiert mit christlichen, buddhistischen, hinduistischen, islamischen und implizit auch mit jüdischen Ikonen: die bildfreie Fläche symbolisiert die Form des siebenarmigen Kerzenleuchter, des Menora. Gleichzeitig signalisiert die Offenheit des Werks aber auch, nicht explizit thematisierte Religionen mitzudenken. Insofern ist Leta Peers künstlerische Ausgestaltung dieses Gotteshauses mutig und feinfühlig, nimmt sie doch die spirituelle Befindlichkeit am Übergang zum dritten Jahrtausend auf ohne werten oder gewichten zu wollen und löst damit den Anspruch der Jury ein, keine spezifisch religionsbestimmenden Einschränkungen sichtbar zu machen.

Sakrale Kunst, dereinst angefertigt zum besseren Verständnis religiöser Inhalte, aber auch als Ehrerbietung und Mahnmal an das göttliche und das jenseitige Reich, lüftet zwar nicht das Geheimnis des Lebens, macht das universell Religiöse aber gegenwärtiger und somit greifbarer. Darin mag Trost liegen und im Neben- und Miteinander dieser Kulturzeugen auch Rückbesinnung auf das menschlich-schicksalshafte Geworfensein, in dem wir gewissermassen vereint sind. Darauf suchte die Menschheit stets Antworten und fand zumindest Wege sinnstiftenden Umgangs, wozu auch Gesten und Handlungen wie Abdankungsfeiern gehören.

„Ein eindrückliches Phänomen im Sterberitual ist heute das der Versöhnung, worunter oft die letzten Worte auf dem Sterbebett, Vergangenheitsbewältigung und nicht zuletzt die Segnungen eines Geistlichen fallen“, schreibt Leta Peer in ihrem Projektdossier. „Denn, wie wenn uns nur dieser Augenblick im Leben zur Verfügung stünde, uns mit allem zu versöhnen, sowohl dem Leben, als auch dem Tod, sind wir ergriffen von dem Verlangen, all diese irdischen Widerstände abzuwerfen. – Als ob nicht gerade im Sterben irdischer Widerstand am meisten spürbar würde. – Versöhnen wir uns vielleicht besser früher, um nachher sagen zu können: Eigentlich gut, dass auch das einmal ein Ende hat.“

Selbstsprechend ist die kleine Inschrift in der rechten unteren Ecke des Kunstwerks:
Omnia cui cedunt, divino cedat amori. (Alles was uns widerfährt, geschieht aus göttlicher Liebe).

 

 
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